Kofferkinder

Dies ist eine kostenlose Homepage erstellt mit hPage.com.

Kofferkinder – Zurückgelassen in der Türkei

Video auf youtube

 

+++++

Das Leben als Kofferkind

Ein Gespräch mit Anke Kültür, Autorin des Films

Etwa 700.000 türkische "Gastarbeiter"-Kinder teilen ein trauriges Schicksal: Ihre Eltern suchten in den 1960er und 1970er Jahren als Arbeitsmigranten das Glück in Deutschland – und ließen sie zurück in der Türkei. Verlassen von den Eltern, wuchsen die Kinder dort zumeist bei den Großeltern auf. Das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, verbindet sie.

Wohlstand – ein eigenes Haus, ein sicheres Einkommen - sollte die Trennungen und Sehnsüchte rechtfertigen. Doch der Plan, nur einige Jahre im Ausland hart zu arbeiten und dann in die Türkei zurück zu kehren, erfüllte sich oftmals nicht. So erging es jenen Kindern, deren Eltern auch nach vielen Jahren unschlüssig waren, wo denn nun ihr Lebensmittelpunkt war, fast noch schlimmer. Sie wurden hin- und hergeschickt, zu so genannten Kofferkindern. Fast jede türkische Familie in Deutschland ist betroffen. Anke Kültür erzählt mit "Kofferkinder" ein bislang schmerzhaftes Tabu der Migrationsgesellschaft.

Wie bist du auf die Idee gekommen diesen Film zu machen? Warum hat dich das Thema interessiert?

Ich bin ganz simpel auf die Idee gekommen. Ich wurde für einen buten-un-binnen-Bericht beauftragt, einen Film über die türkische Autorin Gülçin Wilhelm zu machen. Sie hat ein Buch über die "Generation Koffer" geschrieben.
Um einen bremischen Bezug in dem Beitrag zu haben, fehlten noch Protagonisten aus Bremen und umzu. Es war erstaunlich, wie viele Migranten sich auf Nachfrage als Kofferkinder entpuppten. Zwei waren gleich dazu bereit, mit mir über ihre Kindheit zu sprechen.

Sendetermin

Kofferkinder - Zurückgelassen in der Türkei von Anke Kültür
21. Oktober 2013 | Das Erste

Nach Ausstrahlung des Beitrags haben mich viele Kollegen darauf angesprochen, wie toll und ergreifend der Beitrag war. Erschreckt hat sie, wie viele türkische Kinder dieses Schicksal erlebt haben – ungefähr 700.000.

Auch ich war berührt und vor allem neugierig, mehr über das Thema zu erfahren. Bis dato ist dieser Aspekt der Migrationsgeschichte noch nicht thematisiert worden – eben nur in Frau Wilhelms Buch. Sonst stand immer die erste Generation im Mittelpunkt, die Männer und Frauen, die den Mut hatten, in ein fremdes Land auszuwandern.

Zu guter Letzt hat mich das Thema natürlich auch aus der Sicht als Mutter interessiert.

Wie hast du die Protagonisten gefunden?

Ayhan Zeytin aus Delmenhorst war bereits im buten-un-binnen-Beitrag ein Protagonist. Er wurde mir über einen Bekannten vermittelt, der wie Ayhan bei den Bremer Stahlwerken arbeitet.

Menekşe Toprak hat sich selber bei mir gemeldet. Sie hatte von meinem Projekt gehört. Der Kontakt zu Bilge Toyran kam über die Autorin Gülçin Wilhelm zustande, die in Berlin für mich die Augen aufgehalten hat. Bilge hatte große Scheu. Bei unserem ersten Kennenlernen in Berlin konnte ich sie nicht gleich überzeugen. Auf den Rat meines Mannes haben wir sie dann für ein Wochenende zu uns nach Bremen eingeladen. Das war toll. Da mein Mann ebenfalls aus der Türkei stammt, konnten die beiden auch in ihrer Muttersprache quatschen und Bedenken einfacher aus dem Weg geräumt werden. Ohne meinen Mann hätte ich Bilge wahrscheinlich nicht als Protagonistin gewinnen können. Ihre Kindheit hat sie emotional sehr lange verfolgt. Letztlich hat sie uns aber vertraut und glücklicherweise ja gesagt.

Kofferkinder [Quelle: Radio Bremen]

Menekşe hat einen engen Kontakt zu ihrem Bruder Ahmet Toprak. Nach dem Weggang der Eltern sind ihre Brüder ihre Bezugspersonen.

Somit hatte ich drei Protagonisten gefunden, drei sehr verschiedene Charaktere, die aber das Leben als Kofferkind gemein haben.

Gab es Schwierigkeiten oder Probleme beim Dreh?

Das Schwierigste war tatsächlich, die Protagonisten zu überzeugen. Es geht in diesem Fall nicht nur um die Offenbarung der persönlichen Geschichte, sondern um die der ganzen Familie. Vor allem weil es ein Thema war, dass bislang ein Tabu war. Es war klar, dass es die Protagonisten und ihre Familien aufwühlen würde.

Was war das schlimmste und schwierigste für die Kofferkinder?

Ich denke die Trennung von ihren Eltern. Manche Kofferkinder haben sogar gesagt, dass sie lieber mit ihren Eltern nach Deutschland gegangen und dort den ganzen Tag in der Wohnung geblieben wären, als in der Türkei zurück zu bleiben.

Grundsätzlich war es sicherlich nicht herzlos, die Kinder in der Heimat bei den Großeltern zurück zu lassen. Die Eltern wähnten sie bei den Großeltern bestens versorgt. Aber es geht um die Zeitspanne. Darum, dass die Kinder quasi ohne Eltern bei Oma und Opa aufgewachsen sind. Fünf, sechs, zehn Jahre lang. Dass sie die Eltern nur einmal im Jahr gesehen haben und sie ihnen fremd wurden. Es gab damals noch kein Mobiltelefon, kein Skype, keine SMS. Nur selten konnte man sich ein teures Ferngespräch von einem Telefon leisten. Sonst blieb nur die Möglichkeit, sich Briefe zu schreiben.

Schwer war auch der Start für die Kinder, wenn sie dann von ihren Eltern nach Deutschland geholt worden sind. Es gab keinen Plan, wie man die Gastarbeiter und ihre Familien integrieren kann.

Wie hat dein Mann diese Situation erlebt?

Mein Mann war kein Kofferkind. Sein Vater ist alleine nach Deutschland gegangen. Es gab aber einen Zeitraum, nachdem die Eltern entschieden hatten, nach Deutschland zu ziehen. Da ist seine Mutter ihrem Mann gefolgt und hat den Umzug für die komplette Familie organisiert. Für ein dreiviertel Jahr waren die Kinder alleine in Istanbul, mit Verwandten in der Nähe.

Was hatte diese Kindheit für Folgen im Erwachsenendasein?

Sie hat die Frage des Selbstwertgefühls beeinflusst. Die Frage: Was bin ich wert, wenn meine Eltern mich nicht bei sich haben wollen?

Die Folgen sind natürlich nicht zwangsläufig. Aber gerade im Zusammenhang mit eigenen Kindern kommt das Erlebte hoch. Laut Psychologen gibt es Kofferkinder, die nicht richtig lieben können und es gibt welche, die sind Über-Eltern. Für alle drei Protagonisten aus meinem Film wäre es absolutes Tabu, ihre Kinder zurück zu lassen.

Warum können die Protagonisten so unterschiedlich mit dieser Kindheit umgehen? Lag es daran, wie die Eltern mit der Situation umgegangen sind?

Bilge Toyran lebt heute in Berlin. [Quelle: Radio Bremen]

Bilge Toyran leidet noch heute unter ihrer traurigen Kindheit. Den Kontakt zu ihren Eltern hat die 47jährige abgebrochen.

Das liegt sicherlich auch daran, wie die Eltern mit der Situation umgegangen sind. Ayhan, zum Beispiel, sagt im Film, dass er sich immer geliebt fühlte, während Bilge das Gegenteil äußert. Es war wichtig, dass die Eltern ihren Kindern auch über die Distanz hinweg gezeigt haben, wie sehr sie sie lieben.

Hat Deutschland die Not der Türken ausgenutzt?

Beide haben wissentlich einen Deal gemacht: Deutschland und die Türkei. Die Türkei war in einer Situation, in der sie keine Bedingungen stellen konnte. Die Türkei wollte die Arbeitslosigkeit im eigenen Land bekämpfen und Deutschland war zu Beginn das einzige Land, mit dem die Türkei ein Anwerbeabkommen schließen konnte. Aus diesem Grund konnte Deutschland Bedingungen stellen und beispielsweise eine Einreise der ganzen Familie verweigern. Das änderte sich aber bald, nachdem andere Länder wie die Niederlande auch ein Abkommen mit der Türkei geschlossen hatten.

Man kann deswegen nicht sagen, dass Deutschland die Türkei ausgenutzt hat. Deutschland hat sich zu wenig Gedanken über die Folgen gemacht. Es sind Menschen, die aus großer Not heraus in ein fremdes Land kommen, um ihre Familien ernähren zu können. Aber wie heißt der bekannte Spruch: Deutschland wollte Arbeiter, aber es kamen Menschen.

Kofferkinder [Quelle: Radio Bremen]

Abschied eines Gastarbeiters von seiner Familie

Was hätte Deutschland anders/besser machen können bzw. müssen?

Im Vorfeld hätte man sich darüber Gedanken und einen Plan machen müssen, wie die Menschen integriert werden. Eine faire Integration ist unerlässlich. Dass das schwierig ist, sehen wir bis heute.

Kannst du die Entscheidung und Handlung der Eltern nachvollziehen? Und haben sie ihren Kindern damit wirklich ein besseres Leben ermöglicht?

Finanziell gesehen auf jeden Fall. Emotional würde ich das mit einem Fragezeichen versehen wollen. Ich kann die Eltern ein Stück weit verstehen. Sie haben in Deutschland die Chance auf ein besseres Leben gesehen. Ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Für uns ist die Situation schwer nachzuvollziehen, weil wir in einer Überfluss-Gesellschaft aufgewachsen sind. Wir sind in der glücklichen Lage, nie Hunger gelitten zu haben. Für uns ist es einfach zu urteilen und zu sagen: Das hättet ihr nie tun dürfen. Das ist unvorstellbar seine Kinder zurück zu lassen. Vom Gefühl würde ich sagen, ein Elternteil hätte zu Hause bleiben müssen. Aber ich möchte das Verhalten der Eltern nicht grundsätzlich verurteilen. Sie haben die Kinder in Obhut der Großeltern in guten Händen gewähnt. Damals hat man sich noch keine Gedanken über die psychologische Entwicklung der Kinder gemacht.

Als Fazit kann ich sagen, dass der Film mir noch einmal vor Augen geführt hat, wie schlecht die Startbedingungen der zweiten Generation der türkischen Migranten in Deutschland oft waren.

Weitere Informationen:

Mehr zum Film "Kofferkinder"
von Anke Kültür

18. Oktober 2013
Quelle: http://www.radiobremen.de/fernsehen/produktionen/dokumentationen/kofferkinder118.html

Nach oben

Dies ist eine kostenlose Homepage erstellt mit hPage.com.